Stellungnahme vom Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“ des Weibernetz e.V. zur Anhörung am 13. Oktober 2003 im Deutschen Bundestag
Mit dem SGB IX sind von Seiten behinderter Menschen zu Recht hohe Erwartungen verknüpft. Die Umsetzung des Gesetzes stellt sich jedoch als schwierig dar. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Das SGB IX ist ein Gesetz mit guten Absichten. Es wird nur häufig nicht richtig angewandt und es entsteht vermehrt der Eindruck, dass es von Seiten der Rehaträger boykottiert wird.
Die unbefriedigende Arbeit in den Arbeitsgruppen zur Erstellung der Gemeinsamen Empfehlungen ist ein Beispiel dafür.
Ein Beispiel für die fehlende Umsetzung des SGB IX ist das in § 33 verankerte Recht auf Teilzeitrehamaßnahmen. Die Regelung würde vielen Frauen mit Familienpflichten entgegen kommen. Das Problem sind jedoch die fehlenden Angebote. Wenn es Angebote gibt, sind diese häufig nicht barrierefrei zu erreichen.
Im Einzelnen bewerten wir die Umsetzung wie folgt:
Als Interessenvertretung behinderter Frauen wurde das Weibernetz e.V. von der BAR entweder direkt oder über den Deutschen Behindertenrat zu allen Arbeitsgruppen der Gemeinsamen Empfehlungen nach § 13 eingeladen. In der Praxis wird das Recht der Beteiligung jedoch unterschiedlich interpretiert. Zum Teil wird seitens der Rehaträger die Beteiligung als reines Anhörungsrecht gesehen nach dem Motto „Die Interessenvertretung darf ihre Meinung sagen, aber die Träger machen dann doch, was sie für richtig halten“. Bei den Kostenträgern ist der Paradigmenwechsel, behinderten Menschen und ihren Verbänden „auf gleicher Augenhöhe“ zu begegnen, noch nicht angekommen und wird unseres Erachtens auch nicht gewollt.
Bezüglich der Rahmenvereinbarung für Rehabilitationssport und Funktionstraining mussten wir feststellen, dass die Interessenvertretung behinderter Frauen zu spät hinzugezogen wurde. Als sich die entsprechende Arbeitsgruppe im März 2003 das erste Mal offiziell unter dem Dach der BAR traf, wurde eine nahezu fertige Rahmenvereinbarung vorgelegt - seit Februar 2002 erarbeitet in bilateralen Gesprächen zwischen den Kostenträgern, dem Deutschen Behindertensportbund und der Rheuma Liga. Die weiteren Sitzungen dieser Arbeitsgruppe empfanden wir als Alibi-Veranstaltungen, um der formellen Einbeziehung u.a. der Interessenvertretung behinderter Frauen genüge zu leisten. Zum Beispiel wurden fachliche Einwände unter Hinzuziehung von Studien des BMFSFJ und des Kommentars zum SGB IX von Dau, Düwell und Haines von den Kostenträgern als zu einseitig zurückgewiesen.
Entsprechend kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Rehaträger zu diesem Thema keine wirkliche Zusammenarbeit mit der Interessenvertretung behinderter Frauen angestrebt haben.
Bezüglich § 19 SGB IX ist noch niemand auf uns zugekommen. Überlegungen zur ausreichenden Anzahl von Rehabilitationsdiensten und –einrichtungen (zum Beispiel mehr Teilzeitangebote) finden – wenn überhaupt - ohne die Interessenvertretungen behinderter Frauen statt.
Bislang können wir nicht beobachten, dass die Belange von Frauen und Mädchen berücksichtigt werden. Laut einer Umfrage bei den Landesnetzwerken sowie Beratungs- und Koordinierungsstellen behinderter Frauen gibt es seit dem Inkrafttreten des SGB IX weder mehr Teilzeitangebote noch vermehrt wohnortnahe Rehabilitation oder Möglichkeiten, Kinder mitzubringen. Auch die Berücksichtigung behinderter Mütter (Väter) bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrags hat sich nicht verbessert.
Einhellige Erfahrung ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Servicestellen über spezifische Belange von Frauen keinerlei Vorstellung haben. Unterschiede bestehen allerdings im Umgang damit. Häufigste Antwort ist, dass es doch um Rehaleistungen und nicht um Leistungen für behinderte Frauen ginge. Andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (die deutlich kleinere Zahl) waren bereit, bei Bedarf individuelle Recherchen zu betreiben.
Eine Einbeziehung der regionalen beziehungsweise landesweiten Interessenvertretungen und Beratungsstellen behinderter Frauen fand bei Aufbau oder Arbeit der Servicestellen in der Regel nicht statt, selbst wenn diese auf die Stellen zugegangen sind und ihre Beteiligung/ihr Wissen angeboten haben und wenn andererseits durchaus VertreterInnen anderer sozialer Einrichtungen einbezogen wurden.
Und selbst bei einem positiven Beispiel der Beteiligung der Interessenvertretung war es dann wiederum kaum möglich, für Frauenbelange Gehör zu finden.
Die Öffnungszeiten der Servicestellen sind ebenfalls sehr unterschiedlich. Einige haben tägliche, regelmäßige Öffnungszeiten, andere nur einen Tag in der Woche, dritte haben nur unregelmäßige Öffnungszeiten und wieder andere sind nur nach Terminvereinbarung zu erreichen.
Die Barrierefreiheit der Servicestellen ist sehr unterschiedlich. Barrierefrei im Sinne des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG) ist so gut wie keine. Es sind längst nicht alle Servicestellen mit dem Rollstuhl zu erreichen, bei einigen gibt es Probleme für sinnesbehinderte Menschen. Am schwierigsten ist die Lage für gehörlose Menschen, da die Organisation von GebärdensprachdolmetscherInnen überall sehr unbefriedigend ist.
Der Informationsaustausch innerhalb der Kostenträger findet kaum statt. So wissen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Servicestellen häufig nicht, über die Zuständigkeiten anderer Kostenträger Bescheid, gemeinsame Formulare oder Antragsformulare anderer Träger liegen nicht vor.
Frauen mit Behinderung suchen immer wieder die Beratungsstellen behinderter Frauen auf, weil sie von den Servicestellen weggeschickt wurden mit dem Argument, die Servicestelle sei dafür nicht zuständig. Oder sie hatten dort generell keinen Erfolg. Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen behinderter Frauen sind zum Teil dann als Begleitung zu den Servicestellen mitgegangen, woraufhin die Probleme geklärt und der Antrag aufgenommen werden konnte.
In Bezug auf die Ausarbeitung der gemeinsamen Empfehlungen lässt sich sagen, dass die Bereitschaft der Kostenträger, ihre bisherigen Handhabungen und Regelungen im Sinne einer einheitlicheren und auch transparenteren Verfahrensweise zu verändern, zumindest bei der Mehrzahl der Träger fast gleich Null ist.
So konnte sich zum Beispiel auf den Vorschlag, ein gemeinsames Informationsblatt zu den unterschiedlichen Unterstützungsmöglichkeiten der verschiedenen Träger im Sinne einer Früherkennung von Rehabedarf herauszubringen, lediglich auf den Aushang der Telefonnummer der nächsten Servicestelle in den Betrieben als größten gemeinsamen Nenner geeinigt werden.
Jugend- und Sozialhilfeträger fühlen sich nicht als Rehaträger nach § 6 zuständig. Bei keiner uns bekannten Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der Gemeinsamen Empfehlungen sind diese neuen Rehaträger dabei.
Es ist auffällig, dass die Rehaträger ihre Zuständigkeitsbereiche untereinander nicht gut genug kennen. Auch passiert es heute noch, dass Antragstellerinnen und Antragsteller ohne Antragsannahme zu einem anderen Träger geschickt werden. Hier stellt sich dann die Frage, welcher Träger der Erstangegangene ist, der erste Bearbeitende oder der, der zuerst gefragt wurde. In Fragen von Rechtsstreiten sind hier bereits Probleme absehbar.
Die Frist von zwei Wochen innerhalb derer die Zuständigkeit geprüft werden muss, wird häufig nicht eingehalten. Antragstellerinnen erzählen häufig, dass ihr Antrag zunächst pauschal abgelehnt wurde, um Zeit zu gewinnen.
Uns ist keine Frau bekannt, die für ihr Hilfsmittel in Vorleistung getreten ist. Die Sorge, das Geld dann nicht oder nur einen Teil davon wieder zu bekommen ist zu groß.
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