Dies monierte Martina Puschke von Weibernetz e.V. im Rahmen der Anhörung zum Behindertenbericht der letzten Legislaturperiode am 3. Mai 2010.
Im vorgelegten Behindertenbericht wurden zwar einige Erfolge hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern mit Behinderung dargestellt. Insbesondere die Herausforderungen oder Negativtrends fehlen jedoch im Bericht. Um der Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen entgegenzuwirken, muss ein Staat jedoch genau hinschauen, um zu sehen, an welchen Stellen noch nachgebessert werden muss, fordert Weibernetz.
In der Stellungnahme der Politischen Interessenvertretung behinderter Frauen im Weibernetz e.V. anlässlich der Anhörung zum Behindertenbericht vom 3. Mai 2010 heißt es unter anderem:
Grundsätzlich ist der Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen ein wichtiger Beitrag, um ein Bild über die Entwicklung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu bekommen. Da sich die Lebenssituation von Frauen/Mädchen und Männern/Jungen mit Behinderung unterscheidet, müssen diese Unterschiede auch im Behindertenbericht deutlich werden.
Nur so können geeignete Maßnahmen zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern mit Behinderung entwickelt werden.
Es wird im vorliegenden Bericht in wesentlichen Teilen der beruflichen Teilhabe darauf verzichtet, die Lebenssituation von Frauen und Männern differenziert zu betrachten.
Weder im Bereich der Schulbildung noch zu arbeitsmarktpolitischen Programmen wie „ job 4000“, zur Situation in Integrationsprojekten oder in Werkstätten für behinderte Menschen sind geschlechtsspezifische Aussagen getroffen worden. Auch wird keine geschlechtsdifferenzierte Arbeitslosenstatistik angeführt und im Bereich der Eingliederungshilfe und des persönlichen Budgets fehlt es im Bericht ebenfalls an Zahlen, welche die Lage von Frauen und Männern mit Behinderung differenziert betrachtet.
Um zu erläutern, warum es notwendig ist, einen Bericht zur Lage behinderter Menschen geschlechtsdifferenziert zu gestalten, seien hier einige Beispiele genannt.
Frauen und Mädchen mit Behinderung sind überproportional häufig von sexualisierter Gewalt betroffen. Eine österreichische Studie von 1996 belegt, dass 60% der Frauen, die in Einrichtungen leben, Gewalterfahrungen haben. Die Dunkelziffer der gewalterfahrenen behinderten Frauen ist sehr hoch, weil es nicht immer zu Anzeigen kommt oder Frauen noch nicht einmal von ihrer Gewalterfahrung erzählen. Wie üblich kommen die meisten Täter wie nahe Angehörige oder Pflegepersonal aus Einrichtungen aus dem Nahbereich der Frauen / Mädchen.
Für Deutschland liegen bislang keine repräsentativen Zahlen vor. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat jedoch eine Studie in Auftrag gegeben „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland“, um Aussagen über das Ausmaß von Gewalt bei Frauen mit Behinderung in Deutschland treffen zu können.
Besonders gravierend ist der Umstand, dass trotz des (Fach-)Wissens um die hohe Betroffenheit bei Frauen und Mädchen mit Behinderung, weder die Behindertenhilfe noch das Hilfesystem gegen Gewalt ausreichend auf Frauen und Mädchen mit Behinderung eingestellt sind.
Auch wenn es in den letzten Jahren einige Verbesserungen gab, fehlt es an einer barrierefreien Infrastruktur bei der Hilfe nach Gewalterfahrungen. So sind zum Beispiel lediglich 10 % der Frauenhäuser teilweise barrierefrei. Ähnlich sieht es bei Frauenberatungsstellen aus. Darüber hinaus sieht sich ein Großteil der Psychotherapeutinnen nicht in der Lage, mit behinderten Frauen, insbesondere mit Frauen mit Lernschwierigkeiten zu arbeiten.
In Einrichtungen der Behindertenhilfe fehlt es überwiegend an Leitfäden zum Umgang in Fällen von sexualisierter Gewalt. Auch gibt es kein Qualitätsmerkmal „Schutz vor Gewalt“. Hinzu kommt häufig eine Unkenntnis und Unsicherheit des Personals und eine fehlende Zusammenarbeit mit Frauenprojekten vor Ort. Zudem sind die Bewohner_Innen in Einrichtungen häufig nicht sexuell aufgeklärt und haben nicht gelernt, ihre Grenzen zu erkennen und zu wahren. Die häufig fehlende Wahrung der Intimsphäre in Wohneinrichtungen verhilft auch nicht zu einer Wahrung der eigenen Grenzen.
Zur Stärkung und damit indirekt auch zur Prävention vor Gewalt wurden im Sozialgesetzbuch IX „Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen“ aufgenommen. Diese Übungen sollen im Rahmen des Rehabilitationssports stattfinden. In einem Modellprojekt „Selbst“ mit Finanzierung durch das Bundesfrauenministerium wurden Curricula für die Übungen und für die Ausbildung der Trainerinnen erarbeitet. Die Ergebnisse liegen seit Ende 2006 vor. Allerdings werden die Übungen im Rahmen des Rehabilitationssports bis heute nicht angeboten.
In der Gesundheitsversorgung stoßen Frauen mit Behinderung auf verschiedene Barrieren. Praxen sind häufig nicht barrierefrei. Gerade in ländlichen Gebieten stellt dies ein großes Problem dar, denn behinderte Frauen verfügen seltener über ein eigenes Autos, um weit entfernte behindertengerechte Praxen zu erreichen.
Entsprechend gibt es Frauen mit Behinderung, die noch nie bei einer Vorsorgeuntersuchung der Frauenärztin waren. Die Anzahl barrierefreier gynäkologischer Praxen mit einem entsprechenden verstellbaren Gyn-Stuhl kann man in Deutschland an einer Hand abzählen. Eine freie Wahl von Ärzt_Innen und Therapeut_Innen ist oft entsprechend nicht möglich.
Hinzu kommt eine häufige ärztliche Unkenntnis über die Auswirkungen von Behinderungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt oder Wechselwirkungen von Medikamenten gegen Muskelerkrankungen mit Hormonpräparaten.
Auch Symptome, die auf Gewalterfahrungen schließen können wie zum Beispiel Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen, blaue Flecken, plötzliche Sprachstörungen, selbstzerstörerisches Verhalten werden häufig der Behinderung zugesprochen und nicht als Warnsignale wahrgenommen. Entsprechend erfolgt in diesen Fällen dann auch keine Hilfe.
Frauen mit Behinderung gehören zur größten Gruppe der Nichterwerbspersonen. 57% von ihnen suchen keine Arbeit oder haben aufgegeben, eine Arbeit zu suchen und leben von Unterhalt oder Rente. Dabei leben sie zum Teil mit sehr wenig Geld und sind häufiger von Armut betroffen als Männer.
28% der behinderten Männer im Alter von 25-45 verfügen über ein persönliches Nettoeinkommen von unter 700 Euro. Dies trifft auf 42% der behinderten Frauen zu.
Auch steigt die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Frauen höher als die der Männer. Dennoch ist die die These, dass schwerbehinderte Frauen sehr viel schwerer einen Job finden als Männer seit den letzten Jahren nicht mehr haltbar. Denn die Beschäftigtenquote von Frauen mit Behinderung erhöhte sich mehr als die der Männer.
Statistische Datenerhebungen zu Menschen mit Behinderungen sind zwar immer öfter - jedoch nicht durchgängig und häufig auch gar nicht - nach Geschlechtern aufgeschlüsselt. Weder der Bund, noch die Leistungsträger oder Leistungserbringer führen kontinuierlich geschlechtsspezifische Statistiken.
So veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit ihre monatlichen Arbeitslosenstatistiken für schwerbehinderte Menschen geschlechtsneutral. Es gibt auch (neuere) Studien, die ausschließlich geschlechtsneutral agieren. Auch Krankenkassen, Werkstätten für behinderte Menschen, Wohnheime etc. führen nur zum Teil Frauen und Männer in ihren Daten auf.
Diese lückenhafte Statistiksituation führt dazu, dass geschlechtsspezifische Daten mühsam aus verschiedensten Studien und Datenblättern zusammengefügt werden müssen. Entsprechend ist auch schwer erkennbar, ob Leistungen für alle gleichermaßen gut zugänglich sind oder ob besondere Fördermaßnahmen für Frauen (oder Männer) notwendig sind.
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