Triage – eine menschenrechtliche Frage

Schild an einer Hauswand mit der Aufschrift Eingang, Patientenaufnahme, Zentrale Notaufnahme, Liegendkrankenvorfahrt
Foto: Weibernetz

"Wenn ein gesunder, junger Familienvater eingeliefert wird, der an die Beatmung muss, dann werde ich von der Maschine abgehängt und bin tot",

bringt Nancy Poser Befürchtungen vieler Menschen mit Behinderungen auf den Punkt. Befürchtungen, die im Falle einer Triage eintreten könnten.

Das heißt, wenn zu viele Menschen auf den Intensivstationen wegen COVID-19 beamtet werden müssen und das medizinische Personal entscheiden muss, wer den Vorrang für die Behandlung erhält. Ein Fall, der hoffentlich nie eintritt, aber vor dem Eintritt klar geregelt werden muss.

Bislang liegen für diesen Fall die Empfehlungen einer Triage vor, welche die Genesungschancen und den Erfolg der medizinischen Maßnahme für die Auswahl der Patient_innen als ausschlaggebend sehen.

Über diese Empfehlungen wird seit dem Frühjahr diskutiert. Nancy Poser, eine behinderte Juristin, klagt derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht.

"Wenn sie das so durchziehen wie geplant, dann sind wir, die behindert sind, alle raus",

sagt sie. Als Assistenznehmerin, die rund um die Uhr Assistenz benötigt, weiß sie, wovon sie spricht. Ihr Anwalt Oliver Tolmein von der Kanzlei „Menschen und Rechte“ betont, dass diese Entscheidung keine rein medizinische, sondern eine gesellschaftliche ist. Nancy Poser will, dass es eine gesetzliche Regelung für den Fall der Triage gibt. Ihr Vorschlag: Wer zuerst da ist, bekommt die Behandlung.

Auch die Politische Interessenvertretung behinderter Frauen im Weibernetz vertritt die Ansicht, dass Menschen nicht behinderungsbedingt eine schlechtere Ausgangslage bei der Beurteilung haben dürfen. Genauso wenig wie alte Menschen, wie Menschen mit einer anderen als der christlichen Glaubensrichtung oder Herkunft und so weiter. Das wäre sonst Altersdiskriminierung oder Rassismus oder Antisemitismus. Wenn Menschen mit Behinderungen „hinten über“ fallen, wäre das Ableismus. Denn es würde anhand ihrer (angenommenen) Fähigkeiten ein Rückschluss auf die Erfolgschancen einer Behandlung gezogen werden.

Viel zu oft steht bei vielen von uns schon unter alltäglichen Bedingungen die Frage im Raum, ob Menschen mit Behinderungen per se schlechtere Chancen haben, gesund zu werden, wenn sie zum Beispiel eine Lungenentzündung bekommen. Gerade für diejenigen unter uns, die rund um die Uhr Assistenz benötigen. Die auf Beatmung angewiesen sind. Die aus körperlichen Gründen häufig ihren Alltag im Liegen verbringen.

Gerade in Stresszeiten, wenn es eng wird um Ressourcen, wie zum Beispiel Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten, ist es schwer, bestehende und unhinterfragte Denkweisen abzulegen - gerade wenn sie gesellschaftlich sozusagen „überliefert“ sind. Aber genau das muss passieren! Es muss in diesen Zeiten einmal mehr das gesellschaftliche Bild von Menschen mit Behinderung hinterfragt werden. Menschen mit einer Behinderung haben nicht per se schlechtere Genesungschancen. Das ist die Meinung von Weibernetz.

Zitate von Nancy Poser aus: Lucretia Gather: Klage gegen Triage „Dann werde ich abgehängt“ vom 17.11.2020 im Südwestrundfunk



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